Rudolf Steiner, Anthroposophie und Waldorfschulen

Rudolf Steiner kennen wir heute vor allem als den Begründer der Waldorfschulen. Dabei waren seine Interessen weitaus vielfältiger: Er setzte sich für die biologisch-dynamische Landwirtschaft ein, förderte die Naturmedizin, hatte Visionen einer neu gegliederten Gesellschaft und begründete mit der Eurythmie eine völlig eigenständige Kunstform. Die Geistesrichtung, die er vertrat, nennt man Anthroposophie.

Der vielseitig ausgerichtete Wissenschaftler wurde am 27. Februar 1861 im damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Ort Kraljivec geboren. Aufgewachsen ist der Sohn eines Eisenbahnbeamten im Umkreis von Wien. Dort schrieb er sich nach dem Abitur auch an der Technischen Hochschule ein und studierte zunächst Naturwissenschaften und Mathematik, später Literatur und Philosophie.


Erste Erfahrungen als Pädagoge

Bereits in jungen Jahren sammelte er erste Erfahrungen auf dem Gebiet der Pädagogik. Als Schüler erteilte er Nachhilfestunden, während des Studiums jobbte er als Hauslehrer bei einer betuchten Wiener Familie. Rudolf Steiner schien offenbar ein Händchen für Kinder zu haben, die sich nicht in die Norm einordnen ließen. Mit seinen ganz eigenen Unterrichtsmethoden schaffte er es, einen zehnjährigen Jungen mit Wasserkopf, der zunächst in keine Schule aufgenommen wurde, ins Gymnasium zu bringen. Der Junge sollte später sogar ein erfolgreicher Arzt werden.

Erwachsenenbildung

Anschließend verlegte sich Steiner auf Erwachsenenbildung. In Berlin unterrichtete er in einer so genannten Arbeiterbildungsschule Deutsch und Geschichte. 1902 wird er zum Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft ernannt. Der Begriff Theosophie stammt aus dem Griechischen und bedeutet Göttliche Weisheit. Theosophie ist eine religiöse Weltanschauung, die mit Hilfe von Philosophie, Theologie und ähnlichen Lehren versucht, eine höhere Wahrheit zu erlangen, um zu einer höchsten Vollendung des Seins zu gelangen. Theosophische Lehren gibt es seit der Antike und sie sind zum Teil mit spirituellen Weltanschauungen verbunden.

Was ist Anthroposophie?

Doch Steiner hatte seine eigenen Vorstellungen. 1913 spaltete er sich von der Theosophischen Gesellschaft ab und gründete die Anthroposophische Gesellschaft (Anthroposophie = "Weisheit vom Menschen").  Die Anthroposophie wird von ihren Vertretern als eine Erkenntnislehre angesehen, die zu eigenständiger Forschung auf geistigem Gebiet anleiten soll. Steiner betonte dabei die Freiheit des Menschen, der sich allen Formen der Bevormundung, auch der religiösen, entziehen solle, um einen ganz eigenen Zugang zu Phänomenen der übersinnlichen Welt zu erlangen. Die Anthroposophie ist also rein geistig ausgerichtet, materielle Werte gilt es zu überwinden.


Über 900 Waldorfschulen weltweit

Gemeinsam mit seiner Frau gründete Rudolf Steiner noch im selben Jahr das Goetheanum bei Basel. Es ist bis heute das geistige Zentrum der Anthroposophen. Bis zu seinem Tod im Jahr 1925 veröffentlichte Steiner zahlreiche Schriften, Bücher und Artikel und hielt Tausende von Vorträge im In- und Ausland. Die Anthroposophie ist in unserer Zeit weltweit verbreitet, Waldorf-Schulen gibt es von Tansania bis Irland, von der Ukraine bis Pakistan und von Brasilien bis Neuseeland - weltweit sind es über 900. 

Ungewöhnliches Erziehungskonzept

Steiners größter Einfluss liegt bis heute auf dem Gebiet der Pädagogik. Die Waldorf-Schulen werden deshalb auch manchmal Rudolf-Steiner-Schulen genannt. Der Begriff Waldorf stammt von der allerersten Schule, die Rudolf Steiner 1919 für die Kinder der Leute bauen sollte, die in der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart arbeiteten. Mit Hilfe des Firmenchefs Erich Molt konnte er sein außergewöhnliches Erziehungskonzept verwirklichen.

Fortschrittliche Ideen

Die Waldorf-Schulen brachten damals als erste Gesamtschulen in Deutschland sehr fortschrittliche Ideen ein: zwölf Jahre Regelschulzeit, gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen, zwei Fremdsprachen ab der ersten Klasse und fest in den Lehrplan integrierte Praktika.  Zum Grundziel hatte sich Steiner gesetzt, dass die Schüler in einer Waldorfschule individuell nach ihren Anlagen und Talenten gefördert werden sollen. Um das zu gewährleisten, werden auch die Lehrer speziell nach der Waldorf-Pädagogik ausgebildet.







Keine Noten, kein Sitzenbleiben

Bis heute ist vieles in einer Waldorfschule anders: Zuerst einmal muss ein nach dem Einkommen der Eltern gestaffeltes Schulgeld gezahlt werden, da Waldorfschulen zumindest in Deutschland - nicht staatlich anerkannt sind. Sitzen bleiben gibt es zugunsten der sozialen Einheit der Klasse nicht und auch kein Zensurensystem. Beurteilt werden Waldorfschüler trotzdem. Dabei gelten aber nicht nur die fachlichen, sondern auch die sozialen Leistungen und Fähigkeiten.

Praktisch orientiert

Der Unterricht umfasst zwar die üblichen Fächer wie in einer staatlichen Schule, die allerdings durch viele praktische wie Gartenbau, Malerei, Steinmetzen und Theaterspielen ergänzt werden. Manche Waldorfschulen bieten sogar das Fach Menschenrechte an. Da sich die pädagogischen Richtlinien der Waldorfschulen seit ihrer Gründung kaum verändert haben, werden sie heute von vielen als altmodisch betrachtet. Das häufige Argument von Kritikern, dass Waldorfschüler keine Leistung bringen könnten, stimmt aber kaum. Immerhin macht rund die Hälfte aller Waldorfschüler das Abitur.

Nic 27.02.2006 / Fotos: Wikipedia public domain

Hinweis: Im Archiv wurden alle Bilder und Links entfernt